Etwas amüsiert erinnere ich mich an eine Fahrt mit meinem neuen Auto, das erstmalig mit ABS ausgestattet war. Beim Bremsen auf nasser Straße erschrak ich: Die Bremse packte nicht wie erwartet.
Ich rief sofort meine Werkstatt an: "Die Bremsen meines neuen Wagens funktionieren nicht richtig!" "Ist es vielleicht die Wirkung des ABS, das noch ungewohnt ist?", vermutete der Meister, der ähnliche "Reklamationen" schon von anderen Kunden kannte. "Nein“, wies ich von mir, „das kann ich mir nicht vorstellen.“ Aber so war es dann schließlich doch - peinlich!
Bevor das Antiblockiersystem diese Aufgabe übernahm, lernte man das "Stotterbremsen": Bremse festhalten - loslassen - festhalten - loslassen... Dabei galt es, bei rutschigem Untergrund den richtigen Moment zum Halten und Lösen der Bremse zu finden, um die Verbindung zum Asphalt nicht zu verlieren und so nicht ins Schleudern zu geraten.
"Festhalten" und "Loslassen" gehören zum sicheren Bremsmanöver, begegnen uns auch in den biblischen Lesungen der Osterzeit: Am Ostermorgen hält Maria Magdalena den auferstandenen Jesus zunächst für den Gärtner der Grabanlage. Als der sich zu erkennen gibt, greift sie nach ihm, will fühlen, dass er es wirklich ist, ihn nicht wieder verlieren, ihn halten - am liebsten für immer. Jesus lässt dies aber nicht zu: "Halte mich nicht fest!" Gerade erst hat Maria "ihren Herrn" greifbar nah, schon muss sie ihn wieder loslassen, denn er kann nicht dableiben wie bisher.
Die Worte Jesu aus dem Johannes-Evangelium, die uns in der österlichen Zeit bis Himmelfahrt und Pfingsten in den Gottesdiensten begegnen, klingen etwas verklärt, spiegeln aber eben diese Spannung wider zwischen Halten und Loslassen, Bleiben und Gehen – in der Sehnsucht, in Verbindung zu bleiben: "Ich bin nur noch kurze Zeit bei euch." "Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater..." "Ich gehe fort und komme wieder zu euch." "Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, ... damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir."
Nicht nur, wer heranwachsende Kinder hat, weiß, wie schwierig es mit Bleiben und Gehen, mit Halten und Loslassen zum passenden Zeitpunkt werden kann.
Für die Menschen aus der Ukraine ist dies in den letzten Wochen zur schrecklich schmerzhaften Wirklichkeit geworden: Frauen und Kinder mussten Hals über Kopf fliehen und mussten ihre Partner und Papas im Krieg zurücklassen - und die Männer ihre Familien gehen lassen - ohne Gewissheit, ob und wie sie in Verbindung bleiben könnten. Festhalten wollen - loslassen müssen - eine der allerschwersten Herausforderungen für alle: Paare, Familien und Freunde.
Den Ukrainerinnen und Ukrainern wünsche ich, dass sie diese Zerreißprobe bestehen und die Hoffnung nicht verlieren - und uns allen, dass wir verbunden bleiben – untereinander und mit dem auferstandenen Jesus, der sich nicht festhalten lässt, aber Verbindung zusagt: "Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein." (Johannes 17,21)
Ihre Eva-Maria Nolte, Gemeindereferentin im Bielefelder Osten
Wort zum Sonntag, Westfalen Blatt, 14. Mai 2022
Bild: Martin Manigatterer, In: Pfarrbriefservice.de
Eva-Maria Nolte, Gemeindereferentin im Pastoralverbund Bielefeld-Ost